Bonn – Spielt die Größe eines Unternehmens eine Rolle bei der Personalisierung der Kundenservice-Leistungen? Diese Frage stellte mir Gustavo und bat mich um einen Gastbeitrag für seinen Blog, dem ich gerne nachkomme. Seine These. Je größer eine Organisation ist, desto unpersönlicher wird der Service wegen der Standardisierung. Als Beispiel könnte man den berühmten Tante-Emma-Laden oder mein Kiosk in Bonn-Duisdorf anführen. Die Inhaberin kennt meinen Namen, mein Einkaufsverhalten, meine bevorzugte Zigarettenmarke und weiß sogar einiges zu meinen Einstellungen in politischen Fragen, denn wir unterhalten uns regelmäßig ein paar Minuten über Themen, die uns zumindest im eigenen Kiez umtreiben. Zum Beispiel die Missbrauchsfälle an katholischen Schulen in Bonn. Sie besorgte mir sogar noch die Titanic-Ausgabe mit dem Papst-Titelbild, obwohl diese Ausgabe nach einer juristischen Intervention der Kirche zurückgezogen werden musste. So etwas nenne ich konspirative Kiosk-Anarchie.
Sein und Schein im Kundenservice
Was erwarte ich nun generell als Kunde von den Anbietern, die ich schon aus Zeitgründen gar nicht persönlich kennen kann und will? Zumindest annähernd eine Tante-Emma-Laden-Philosophie. Keine persönlichen Dialoge, sondern personalisierte Dienstleistungen. Das würde mich schon glücklich machen. Leider ist das Gegenteil der Fall. Es dominieren immer noch Alzheimer-Effekte – besonders bei Hotline-Unternehmen. Und leider ist das nach einer Umfrage der Marktforschungsunternehmen Vanson Bourne und Opinion Matters bei großen und kleinen Organisationen festzustellen.
Zwischen dem Service-Angebot der Unternehmen und den konkreten Anforderungen der Kunden besteht ein erheblicher Unterschied. So sind nur 10,7 Prozent der befragten Kunden der Meinung, dass sie bei der Kontaktierung ihres Service-Providers individuell betreut werden. Auf der anderen Seite vertritt fast die Hälfte aller Unternehmen die Ansicht, dass sie ihren Kunden einen personalisierten Service bieten. Aber nur 37 Prozent der Unternehmen erklärten, dass sie über Lösungen verfügen, die einen einheitlichen Kundenservice-Prozess über unterschiedliche Kanäle ermöglichen – obwohl auf Fachkonferenzen nun schon seit Ewigkeiten über Multichannel-Management geschwafelt wird.
50 Prozent der Kunden gaben zu Protokoll, dass Servicemitarbeiter entweder überhaupt keinen oder kaum einen konkreten Überblick über die Produkte, Lösungen oder Services haben, die man vom Anbieter nutzt. Bei der Befragung der Unternehmen hingegen zeigt sich ein anderes Bild: 68 Prozent sind der Meinung, dass sie die Bedürfnisse der Kunden verstehen und ausreichend Einblick in deren konkrete Belange haben. Die Mehrheit der Kunden betrachtet zudem die Informationen, die sie vom Kundenservice erhalten, mit Skepsis. Lediglich fünf Prozent schenken diesen Informationen volles Vertrauen. Ein echtes Desaster.
Weniger als die Hälfte aller befragten Unternehmen (48 Prozent) erklärten, dass die im Kundenservice tätigen Mitarbeiter auf alle Accounts, Produkte und Services eines Kunden über eine einzige Anwendung zugreifen können – einschließlich der gesamten Kommunikationshistorie. Erschreckend ist vor allem, dass sieben Prozent der Interviewten einräumten, dass die Servicemitarbeiter überhaupt keinen Zugriff auf Kundeninformationen haben. Diesen Wert halte ich sogar noch für niedrig. Wer gibt so etwas schon gerne zu. Eine kundenindividuelle Ansprache ist damit natürlich überhaupt nicht möglich.
Profi-Verkauf oder Internet: Der Rest stirbt
Die Call Center-Szene reagiert immer ein wenig allergisch, wenn man sie mit solchen Fakten konfrontiert. Aber die Studie zeigt deutlich, unter welchem Realitätsverlust die Service-Manager leiden. Sie sollten sich von ihrer Nabelschau-Politik verabschieden und künftig bei öffentlichen Auftritten keine Powerpoint-Weisheiten von sich geben, sondern den Dialog mit richtigen Kunden suchen. Auf der Call Center World in Berlin sollten alle Vorträge live ins Netz übertragen werden mit der Möglichkeit zur Disputation über das Social Web. Hört also auf mit den Hinterzimmer-Gesprächen und geschlossenen Veranstaltungen. Stürzt Euch in den Dialog mit den Kunden, ohne Freigabe-Prozesse, ohne Kommentar-Restriktionen und ohne Moderation. Nur so bekommt man einen klaren Blick auf die Wirklichkeit. Mich wundern die Befunde der Marktforscher überhaupt nicht, denn die Führungskräfte im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft verbringen 70 Prozent ihrer Arbeitszeit mit dem Rücken zum Kunden. Warum soll sich das ändern? Auch in sozialen Netzwerken glänzen sie mit Ignoranz. Als Ergebnis droht den Anbietern im Kundenservice das Szenario des Ex-IBM-Cheftechnologen Gunter Dueck: „Profi-Verkauf oder Internet: Der Rest stirbt“. Ich halte das für sehr realistisch.
Apps und die asynchrone Kommunikation spielen der Automatisierung in die Karten
Beschleunigt wird das durch die Virtualisierung und das Teilen von Kundenerfahrungen in sozialen Netzwerken. Hotline-Mitarbeiter oder das Personal im stationären Handel können nicht die Expertise des Internets bieten. Dabei sind die Stärken vernetzter Services über Apps noch gar nicht ausgespielt worden, so die Auffassung von Andreas Klug vom Software-Unternehmen Ityx in Köln. Er spricht von Applikationen, die verschiedene Dienste unter einer „Motorhaube“ vereinen – von der Lokalisierung bis zur Speicherung personalisierter Informationen. Nicht umsonst redet man deshalb von digitalen Assistenten:
„Schon jetzt laufen Kundenbeziehungen komplett über Apps – etwa bei Simyo. Dieser Dienst funktioniert in Echtzeit. Ich kann auf Knopfdruck in ein Forum gehen und bekomme von anderen Kunden innerhalb von wenigen Minuten eine qualifizierte Antwort auf technische Probleme. Welches Call Center kann das leisten? Das ist finanziell überhaupt nicht machbar. Firmen wie Simyo oder Samsung setzt sehr erfolgreich auf Kunden-helfen-Kunden-Effekte. Hierfür ist eine App die perfekte Plattform für den Direktkontakt mit dem Anbieter, für den Austausch mit anderen Kunden, für die Suche nach Informationen und für Einblicke in den Vertrag. Das kann ich zu jeder Tages- und Nachtzeit in Anspruch nehmen. Eine Hotline kann das am Samstagabend um 22,30 Uhr nicht bieten. Wir leben aber in einer Welt, wo alles sofort passieren muss. Ich will mein Problem ohne Zeitverzögerung lösen. Das merke ich in meinem eigenen Alltagsleben immer deutlicher im Umgang mit Geräten, Dienstleistungen, Versicherungen, Banken oder Reisebuchungen. Ein Problem tritt auf und ich möchte es direkt lösen“, sagt Klug im Ich sag mal-Bibliotheksgespräch
.
Ein weiterer Trend spiele der Automatisierung in die Karten: Die Renaissance der Verschriftung über Postings auf Facebook, Twitter, Foren und Blogs. Alle Branchengrößen der Call Center-Szene würden von einer deutlichen Reduktion der Telefonate ausgehen. „Früher lagen die Anrufe bei 90 Prozent, heute bestenfalls bei 50 bis 60 Prozent – mit sinkender Tendenz. Es gibt sogar weltweit operierende Konzerne der Unterhaltungselektronik, die haben ihre Call-Rate auf unter sieben Prozent verringert“, weiß der Ityx-Manager.
Gleichzeitig steige über die App-Economy und über soziale Netzwerke der Anteil der asynchronen Kommunikation mit vielfältigen Möglichkeiten für personalisierte Services und für den Einsatz lernfähiger Software. Es entstehe eine neue Kundenintimität, wenn es der Kunde möchte. So entgehe man der Facebook-Datenschutzfalle, weil es ein direktes Abkommen zwischen Anbieter und Kunde gibt. Hier reiche ein Opt-out-Verfahren. Das sei eine klassische Win-Win-Situation. Als Kunde habe ich ein Interesse, ohne Alzheimer-Effekte und Warteschleifen punktgenau bedient zu werden.
Gazprom und die Transparenz der Web-Giganten
Wichtig für die Personalisierung sind allerdings Vertrauen und Transparenz. Wenn Unternehmen wie Facebook und Google mit meinen Daten lukrative Geschäfte machen, müssen sie mich wie einen Kunden behandeln und nicht wie Daten-Vieh, das sie jederzeit schlachten können. So liegen die Web-Giganten in Fragen der Transparenz ungefähr auf dem Level von Gazprom: „Dabei verdienen ausgerechnet diese Unternehmen mit der Transparenz ihrer Kunden ihr Geld“, kritisiert Christian Humborg, Geschäftsführer von Transparency International Deutschland Wenn diese Konzerne sich nicht von ihrer Friss-oder-stirb-Geschäftspolitik verabschieden, wird es auch nichts mit dem lukrativen Geschäft personalisierter Dienste. Die wandern in die Apps und in die Cloud. Als Ergebnis bekomme ich einen virtuellen Concierge auf mein Smartphone und zeige den zentralistisch organisierten Plattformen die lange Nase.
Über Gunnar Sohn
[…] Spielt die Größe eines Unternehmens eine Rolle bei der Personalisierung der Kundenservice-Leistungen? Diese Frage stellte mir Gustavo und bat mich um einen Gastbeitrag, dem ich gerne nachkomme. Seine These. Je größer eine Organisation ist, desto unpersönlicher wird der Service wegen der Standardisierung. Ausführlich nachzulesen unter: SERVICE OHNE ALZHEIMER-EFFEKTE: GROSSE UND KLEINE ORGANISATIONEN VERSAGEN BEI DER PERSONALISIERUNG I…. […]
Reblogged this on Walter Warnecke.
[…] Transparenz und Vertrauen sind die Grundlage für personalisiere Dienste im Netz. Darauf habe ich in meinem Gastbeitrag für Im-Zuge-der-Zeit hingewiesen. […]
Nicht alles, was aus den USA zu uns Europäern herüber schwappt, ist ein Seegen. Aber zumindest verfolgen die Amerikaner die Vision einer digitalen Echtzeit-Serviceökonomie: Kunden-Chat und Facebook-Service gehören fast schon zum Mainstream. Und in Deutschland? Servicewüste. Wir haben das Mitte der Woche thematisiert: http://www.ityx.de/blog/kundenservice-noch-nicht-im-appzeitalter-angekommen
Reblogged this on nashtechblog.
[…] + Kundenservice + […]
Viele Organisationen haben kein Gefühl für die individuelle Gestaltung der Kundenbetreuung.
Hallo.. Robo?!
Herzlichen Dank für deinen Kommentar! Sie haben aber allerdings dringend nötig.
Das ist der oberste Befehl der heutigen Zeit. Und in diesem Zuge haben Organisationen leider auch oft nicht das Gefühl für die Betreuung und Wertschätzung der Mitarbeiter und Steakholders.
[…] Service ohne Alzheimer-Effekte / Im Zuge der Zeit Gunnar Sohn über den Stand der Personalisierung im Kundenservice […]